Witches of New Orleans – Kurzgeschichte

Es war einmal …

Lustlos stieß Mary die Schwingtür auf, die in die Bibliothek der Witches of New Orleans Academy führte. Die Regeln an der Schule waren zu streng, fand sie. Sie ging doch auf diese Schule, um den Umgang mit ihren Kräften zu lernen. Wieso durfte sie sie dann nicht anwenden? Natürlich, jeder Zauber hatte Konsequenzen, das wusste sie. Aber das war ihr egal, denn der Zweck heiligte die Mittel.

Mary ging ohne sich umzusehen direkt auf die Bibliothekarin zu, die hinter ihrem Schreibtisch saß und in einem Buch las. Sie musste sich nicht umsehen, in der ganzen Bibliothek befand sich kein Buch, in dem die wirklich guten Zauber standen. Solche zum Beispiel, wie die, die Marie Leveau zu ihren Lebzeiten angewandt hatte. Mary bewunderte die Begründerin des großen Zirkels von New Orleans. Immerhin war sie mächtig genug, alle Hexen der Stadt in einem Zirkel zu vereinen und so dafür zu sorgen, dass jede Art von Magie für jede Hexe nutzbar war. Was die Hexen von Crescent City zum mächtigsten Zirkel der Welt gemacht hatte.

Die Bibliothekarin sah von ihrem Buch auf, als Mary vor dem Schreibtisch stehenblieb, die Hände in die Taschen ihrer Jeans geschoben, legte sie den Kopf schief und setzte eine bissige Miene auf. Die alte Dame mit dem faltigen Gesicht und den silbernen Haaren durfte ruhig wissen, dass sie nicht freiwillig hier war, um für sie zu schuften.

»Mary, nehme ich an«, begrüßte sie sie. »Du bist also die Schülerin, die trotz aller Warnungen einen Liebeszauber an einem Menschen ausprobiert hat.« Sie zog vorwurfsvoll eine Augenbraue hoch. »Wie geht es dem Jungen jetzt?«

Mary presste die Lippen aufeinander. Was war schon falsch daran, zu wollen, dass ein Junge sich für sie interessierte. Sie wollte nur, dass er sie so ansah, wie sie ihn. Dass er sich so sehr zu ihr hingezogen fühlte, wie sie zu ihm. Sie wollte einfach nur dieses leere nagende Gefühl loswerden, das sie hatte, wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als von ihm beachtet zu werden und er stattdessen nur Augen für dieses Menschenmädchen hatte, das hin und wieder mit ihm zusammen in das Café kam, um Beignetes mit Kakao zu essen. Beignets, die sie gezwungen war jeden tag nach der Schule zu backen, um ihrer Mutter im Geschäft zu helfen. Wenn er schon ständig kam, um ihr Gebäck zu essen, dann konnte er sie doch auch mal anlächeln. Wenigstens bemerken, dass es sie gab.

»Er … sie haben ihn in die Psychiatrie gebracht«, gab Mary widerwillig zu. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde. Ich dachte, er rennt mir ein wenig hinterher, kann nur noch an mich denken und wenn ich fertig bin mit ihm, dann verliert er auch das Interesse.«

»Was nicht funktioniert hat«, fügte die Bibliothekarin an. »Wie du wolltest, denkt er nur noch an dich. Sein Leben besteht nur aus dir. Er kann nicht essen, nicht schlafen, nicht aufhören, an dich zu denken. Er verzehrt sich so sehr nach dir, dass er sterben wird. An gebrochenem Herzen.« Die Bibliothekarin stand vom Stuhl auf, legte ihr Buch zur Seite und reichte Mary ihre Hand. »Mein Name ist Cat. In 100 Jahren auf dieser Erde habe ich noch kein einziges Mal erlebt, dass ein Mann einen Liebeszauber überlebt. Es gibt Gründe für unsere Regeln. Vielleicht wirst du sie lernen, indem du mir hilfst. Zumindest aber wird dich das abhalten, weitere Dummheiten zu begehen. Am besten du beginnst damit, diese Bücher wieder in die Regale zu sortieren. Und sollte dir dabei ein Buch begegnen, das du gerne lesen möchtest, lass dich nicht aufhalten.«

Cat erklärte Mary nach welchem System die Bücher in der Bibliothek sortiert wurden, aber nach den erneuten Vorwürfen, war Mary die Lust auf eine Strafarbeit noch mehr vergangen und sie hörte kaum zu. Sie nahm den Bücherwagen nur, um den Vorwurfsvollen Blicken der alten Dame zu entgehen. Einhundert Jahre, Hexen wurden selten so alt. Diese hier hatte die 20er Jahre miterlebt. Die verrückte Zeit, in der sich alle vom Krieg, der spanischen Grippe und dem Axeman erholten, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte, als er Menschen einfach mit einer Axt hinrichtete. Cat wünschte sich, sie hätte damals gelebt, als alles noch freier war. Frauen entdeckten, dass sie genauso sein konnten wie Männer, sich die Haare abschnitten, Hosen oder kurze Kleider trugen.

Mary stellte gerade einen Band über Kräuter und ihre Heilwirkung in eins der Regale, als sie ein leises Flüstern vernahm. Es hörte sich an, als riefe jemand ihren Namen. Wie ein Wispern im Wind, aber eindeutig ihr Name, war sie sich sicher, als sie das Geräusch wieder hörte. Sie konzentrierte sich auf das leise Säuseln und folgte ihm entlang der Regale, bis ganz nach hinten vor eine unscheinbare kleine Tür, wo das Wispern etwas lauter wurde. Sie hob die Hand und legte sie auf den Türknauf. Obwohl sich in ihrer Brust ein beängstigendes Gefühl breit machte, konnte sie nicht anders, als dem Locken nachzugeben.

»Nicht diese Tür«, sagte Cat drohend.

Mary sah auf und begegnete Cats warnendem Blick. Auf eine Krücke gestützt, stand sie wenige Schritte entfernt und presste die ohnehin schon schmalen Lippen, so fest zusammen, dass sich die Falten um ihre Mundwinkel herum noch tiefer gruben. »Aber jemand ruft nach mir.«

Cat schüttelte den Kopf. »Was auch immer du zu hören glaubst, alles, was von dort unten heraufkommt, ist nicht real.« Sie kam näher und nahm mit zitternden Fingern Marys Hand von dem Knauf.

»Was ist da unten?«, wollte Mary verunsichert wissen. Sie spürte, dass die alte Frau die Wahrheit sagte, und doch, konnte sie nicht anders. Sie musste es wissen, weil die Stimme noch immer nach ihr rief und es sich anfühlte, als zöge ein unsichtbares Band an ihrem Körper.

Cat atmete tief ein. Mary spürte, dass Cat ungern darüber reden wollte. »Ich sollte es dir nicht sagen, aber da etwas dort nach dir ruft, wird wohl nur die Wahrheit dich abhalten können, dem Ruf zu folgen. Verfluchte Objekte«, gestand Cat kurz angebunden. »Nichts dort unten ist gut. Wir sammeln sie seit Jahrhunderten, um sie aus dem Verkehr zu ziehen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können.«

»Ich hab von diesen Objekten gehört, also, dass es sie gibt«, stieß Mary atemlos hervor. Sie fühlte sich aufgeregt und zugleich ein wenig ängstlich. Fast, als würde sie das erste Mal in eine gefährliche Achterbahn steigen wollen. »Sie stammen aus der Zeit vor den Hexenverbrennungen. Als es noch Hexen gab, die den Menschen schaden wollten. So richtig schaden.«

»Ja«, bestätigte Cat. »Ein paar der Sachen stammen aus Salem. Die Hexen, die damals vor den Prozessen geflohen sind und hierher kamen, haben sie mitgebracht.«

Mary trat von der Tür weg. »Was könnte dort nach mir rufen?«

Cat runzelte die Stirn und schien eine Weile darüber nachzudenken, lange genug, dass Mary sich sicher war, dass sie die Antwort genau kannte, sie ihr nur nicht sagen wollte. »Wenn du Vorfahren in Salem hattest, möglich, dass es etwas von deiner Familie ist. Du solltest jetzt weiterarbeiten, und lass dich nicht davon beeinflussen.« Cat zog einen Schlüssel aus der Tasche. »Am Besten, ich gehe nochmal sicher, dass hier auch abgeschlossen ist.« Sie steckte den Schlüssel in das Schloss, ihre runzlige Hand zitterte dabei, und nickte zufrieden. »Und jetzt arbeite.«

Mary widmete sich wieder den Büchern, aber das Rufen hörte nicht auf, wenn überhaupt wurde es noch energischer. Es ließ sie nicht los und trommelte regelrecht auf ihr Hirn ein, egal wie sehr sie versuchte, es zu ignorieren. Verstörend und als wollte es niemals aufhören. Wie sollte sie das 4 Wochen lang ertragen? So lange sollte ihre Strafe andauern. »Noch nicht lang genug«, vernahm sie die Stimme der Hohepriesterin, die auch die Schule leitete. »Trevor wird noch sehr viel länger leiden, bis er dann sterben wird.« Mary schauderte bei der Erinnerung an das Gespräch im Büro der Leiterin.

Trevor würde sterben und es wäre ihre Schuld. Mary wollte eigentlich nicht darüber nachdenken. Aber sie musste es immer wieder, denn anders, als alle glaubten, bereute sie, was sie getan hatte. Und sie würde es zu gern rückgängig machen, wenn sie könnte. Aber nichts war so mächtig wie ein Liebeszauber. Wieso hatte Mary nicht geglaubt, was ihnen immer wieder beigebracht wurde, dass dieser Zauber Menschen ins Unglück stürzt. Wieder erklang ihr Name, verzweifelter diesmal. Gefolgt von einem: »Hier findest du deine Antwort. Hier findest du Antwort auf alles.«

Sie erschauderte, aber sie wusste auch, dass die Stimme recht hatte. Wenn etwas mächtig genug war, einen Liebeszauber zu zerstören, dann eins der sagenumwobenen dunklen Objekte. Sie könnte Trevor retten. Und niemals wieder würde jemand über sie sagen können, dass sie einem Menschen geschadet hatte. Was streng verboten war. Die Aufgabe aller Hexen war es, ihre Fähigkeiten zu nutzen, um zu beschützen, nicht um zu töten. Auf keinen Fall wollte sie eine der Hexen sein, die getötet hatten. Wäre sie keine Schülerin mehr, hätte der Rat ihre Verbrennung angeordnet. Den Makel, einen Menschen getötet zu haben, würde sie niemals wieder loswerden. Die Ahnen könnten ihr und ihrer Familie den Zugang zur mächtigen Ahnenmagie verwehren.

Mary räumte weiter Bücher in die Regale und versuchte, nicht an die Tür zu denken, was ihr leichter fiel, weil das Rufen aufgehört hatte. Weswegen sie auch versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken. Kein Rufen mehr, kein zehrendes Gefühl. Aber ihr schlechtes Gewissen wegen Trevor und die leise Hoffnung auf Rettung hinter dieser Tür, ließ sie nicht ganz los. Die Gedanken kreisten weiter in ihrem Kopf. Und ihre Sinne waren auf das leiseste Geräusch ausgerichtet. Hätte sie wirklich ihre Antwort dort gefunden? 

Sie sah sich nach Cat um, die wieder hinter ihrem Schreibtisch saß, vertieft in einen alten Wälzer. »Wenn mein Name noch einmal gerufen wird, dann gehe ich zur Tür. Sie ist ja ohnehin abgeschlossen. Ich komme also gar nicht rein. Ich hätte es versucht und das würde reichen, um dem Drängen nachgegeben zu haben. Hörst du, wenn du mich noch einmal rufst, dann komme ich. Wenn du schweigst, bedeutet das, dass ich nicht kommen soll«, versuchte sie mit sich selbst zu verhandeln. »Noch ein Rufen und es ist Schicksal. Keins mehr, und es hatte nie etwas zu bedeuten.«

Und da war es, zischend, säuselnd, lockend: ihr Name. Mary.

In Mary Brust begann ihr Herz heftig zu klopfen. Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief ein und ging langsam und so leise wie möglich auf die Tür in der Ecke zu. Sie wagte nicht einmal, sich nach Cat umzusehen, sondern setzte einen Schritt vor den anderen, legte die Hand auf den Knauf, so wie vorhin schon, und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Mary sackte das Herz in den Magen. Sie holte noch einmal Luft, versuchte sich Mut zu machen und dachte an Trevor und all die Konsequenzen, die ihr drohten, als Hexe, die als Mörderin gebranntmarkt war.

Sie stießt die Tür weiter auf und starrte in einen dunklen Abgrund. Mehrere Stufen führten nach unten in eine absolute Finsternis. Doch sobald sie den ersten Schritt machte, flackerte ein Licht auf, wie von mehreren Kerzen. Wahrscheinlich ein Zauber. Mary schloss die Tür hinter sich und ging mit vorsichtigen Schritten die Stufen nach unten. In ihr machte sich eine beängstigende Enge breit, so als wollte ihr Instinkt sie davor warnen, weiterzugehen. Sie spürte die Dunkelheit, die dieser Ort ausstrahlte. Nicht wirklich böse, aber auch nicht gut.

Der Raum unten sah aus wie ein Archiv, endlose Regalreihen mit Kisten und Gegenständen von denen die Magie in Wellen ausgesandt wurde. Mary konnte sie spüren, als knistere sie auf ihrer Haut. So viel Magie, wie sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sie ging an einem Regal entlang, in dem Gegenstände lagen, die auf dem ersten Blick harmlos wirkten. Sachen wie eine alte Öllampe, ein Kochlöffel oder ein Topf. In einem weiteren Regal reihten sich Bücher an Büchern. Schwere Wälzer, in Leder eingebunden, die teilweise starke Altersspuren aufwiesen. Unter jedem Gegenstand und jeder Kiste war ein Schild angebracht, auf dem die Herkunft und das Alter standen.

Marys Name wurde wieder gerufen, viel lauter diesmal und mit einem Zwang, dem sie nicht länger widerstehen konnte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen lief Mary weiter, an den Regalen vorbei, die kein Ende zu nehmen schienen. Dieser Keller musste deutlich größer sein, als das Gebäude darüber. Die Academy machte von außen eher den Eindruck einer alten Südstaatenvilla in U-Form, die inmitten eines Parks mit wunderschönen, knorrigen Laubbäumen stand, von denen Spanisches Moos hing, das sich sanft im warmen Wind bewegte. Aber darunter befand sich offensichtlich dieses sehr große Archiv.

Mary folgte weiter dem Wispern und gelangte in den letzten Gang, der den anderen glich, auch hier gab es ein Regal auf der einen Seite, aber auf der anderen befand sich eine Wand, an der unzählige Gemälde und Spiegel hingen. Manches der Gemälde zeigte Landschaften, andere zeigten Tiere oder Menschen. Besonders unheimlich waren die Portraits, deren Augen Mary zu folgen schienen. In dem Regal entdeckte Mary einen angegessenen Apfel, genau auf Höhe ihrer Augen. Er sah aus, als wäre er eben erst dort ableget worden, rund und knackig, rot und grün. Und die Stelle, von der abgebissen wurde, war noch nicht braun geworden. Daneben lag ein Silberner Kamm mit Zinken aus Elfenbein, wie es sie manchmal in den Antikläden im French Quarter noch zu kaufen gab. Neben dem Kamm lag ein Messer, das von etwas bedeckt war, das rostbraun und rissig aussah. Mary war sich sicher, dass es eingetrocknetes Blut war. Auf dem Schild unter dem Messer stand das Wort: Jäger, Lohr am Main, 1740. Unter dem Kamm und dem Apfel stand: Maria Sophia von Erthal, Lohr am Main, 1740, bekannt als Schneewittchen.

Schneewittchen, als Mary diesen Namen las, blinzelte sie verwirrt und konnte sich ein ungläubiges Schnauben nicht verdrücken. Sie hob die Hand und ihre Finger schwebten über dem Kamm, zu gern wollte sie ihn berühren. Im Unterricht hatten sie über die Magie der Maria Elisabeth Claudia gesprochen, die Stiefmutter Schneewittchens.

Mary fuhr zusammen, als direkt hinter ihr ihr Name geflüstert wurde. Sie wandte sich um und stand vor einem ovalen Spiegel, der einen rot-goldenen Rahmen hatte. Oben in der Mitte waren mit blutroten Steinen die Worte »Amour Propre« – Selbstliebe – geschrieben. Dieser Spiegel gehörte der Stiefmutter, das wusste Mary. Sie trat näher und betrachtete ihr Gesicht darin. Es sah aus wie immer. Ihr blickten noch immer hellgrüne Augen entgegen, die die Farbe eines Bergsees hatten. Ihre Haare waren noch immer schulterlang und tiefschwarz, ihre Wangen hoch, ihre Lippen voll und ihre Nase etwas zu groß und knubbelig.

Nichts an dem Spiegel erschien ungewöhnlich, aber Mary war sich sicher, dass er sie gerufen hatte. Sie streckte die Hand aus und ihr Spiegelbild tat das gleiche. Sie berührte die glatte Fläche des Glases mit den Fingerspitzen, dort wo ihre Lippen gespiegelt wurden. Ihr war bewusst, dass sie keins der Objekte hier berühren sollte, aber die Magie in ihnen zog sie magisch an. Sie fühlte sich ganz kribblig, ihre wurde etwas kühler und irgendwie auch ein wenig schwummrig. Der Raum um sie herum drehte sich, aber das bekam sie nur im Augenwinkel mit, als säße sie in einem Karussell, und würde starr auf den Hinterkopf ihres Vordermannes starren. Alles raste an ihr vorbei, nur der Punkt, auf den sie schaute nicht.

Bis sie plötzlich nicht mehr sich selbst ins Gesicht sah, sondern einem rothaarigen Mädchen, das an einem Tisch saß und etwas in ein Heft schrieb. Im Hintergrund konnte Mary ein Bett mit einer altrosa Tagesdecke darauf sehen. Neben dem Bett stand ein weißes Regal, in dem einige goldene Pokale und Bücher standen. Auf dem Boden lag ein Teppich und auf dem Teppich schlief ein kleiner struppiger Hund. Hinter dem Mädchen öffnete sich leise eine Tür und der Kopf einer Frau erschien. Die Frau sah sich kurz um, schien zufrieden mit dem, was sie sah und schloss die Tür wieder. Das Mädchen konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit, unterstrich etwas mit einem roten Stift und klappte danach das Heft zu. Sie sah auf, griff nach einer Flasche Wasser, trank einen Schluck und tippte grinsend eine Nachricht in ihr Handy.

Als sie damit fertig war, nahm sie sich einen Apfel vom Teller, auf dem auch ein Sandwich lag, das unangerührt war. Sie biss in den Apfel, sah Mary direkt in die Augen und keuchte auf. Ihre Hand schoss an ihre Kehle, sie würgte und röchelte. Ihre Augen weiteten sich mehr, als Mary es für möglich gehalten hätte. Das Mädchen hatte sie gesehen. Wie konnte es sein? Was geschah hier? Wie war sie in das Zimmer das Mädchens gekommen? Mary streckte die Hand nach dem Mädchen aus, berührte aber nur kaltes Glas. Als würde sie noch immer vor dem Spiegel stehen und der Spiegel zeigte ihr etwas, das woanders geschah. Als würde sie einen Film ansehen. Aber Mary spürte, dass das, was sie sah in diesem Augenblick geschah.

Das Gesicht des Mädchens verfärbte sich und in ihre Augen trat Wasser. Sie beugte sich vorn über, stand auf, stützte sich auf dem Tisch auf. Der Hund hinter ihr, sah sie verwundert an, hob seinen Kopf und bellte einmal kurz. Das Mädchen rang um Atem. Mary packte die gleiche Panik, die das Mädchen gepackt hatte. Sie wollte ihr helfen.

»Du musst dein Zimmer verlassen. Geh nach draußen. Lass dir helfen«, rief sie dem Mädchen zu, aber es reagierte nicht. Stattdessen fiel sie auf die Knie. Ihr Rücken bäumte sich auf, sie rang um Sauerstoff, ohne Erfolg. Der Hund bellte jetzt unaufhörlich und Mary betete, dass die Frau von vorhin ihn hörten würde, aber die Tür bliebt verschlossen. Der Körper des Mädchens sackte auf dem Boden zusammen. Sie hob Mary hilfesuchend eine Hand entgegen. Ein letzter Versuch, ihr Leben zu retten, bevor sie vollends erschlaffte und liegenblieb.

Der Raum begann sich wieder zu drehen, und als das Karussell endlich stillstand, befand Mary sich in einem Frisörsalon. Sie blickte auf Trevors Freundin, die in einem der Stühle saß. Eine Friseusin wickelte gerade ein Handtuch von ihrem Kopf, strich mit den Händen über ihr Haar, um es zu glätten. Eine andere reichte eine Tasse an Trevors Freundin weiter, die sich mit einem knappen nicken bedankte.

Mary sah sich in dem Laden um. Sie erkannte die Einrichtung, überwiegend alte Möbel aus massivem Holz. An einer der Trennwände hingen die für New Orleans so typischen Mardi Gras-Ketten in gold, grün und violett. In diesem Salon ließ auch Mary sich immer die Haare machen. Die Frisösin hinter dem Mädchen griff jetzt nach einem Kamm, der dem von Schneewittchen sehr ähnlich sah. Innerlich verkrampfte Mary bei dem Gedanken. Es fühlte sich wie eine dunkle Vorahnung an, die sich viel zu schnell bewahrheitete. Sobald die Frisösin den Kamm in das blonde Haar schob, weiteten sich die Augen ihrer Kundin. Ihre freie Hand umklammerte die Armlehne des Stuhls, die andere ließ die Tasse fallen und schwarzer Kaffee ergoss sich über weiße Fliesen.

»Nein«, rief Mary erschrocken aus, aber niemand reagierte auf sie. Also könnten sie die Menschen in dem Salon nicht hören. Mary blieb nichts anderes, als zuzusehen, wie das Mädchen begann sich im Kampf um ihr Leben zu winden. Genauso wie die beiden Frisösinnen und eine weitere Kundin, die fassungslos ihre Hände auf ihre Gesichter drückten, unfähig, etwas zu tun. Der Körper des Mädchens zuckte unter heftigen Krämpfen, bis er im Stuhl zusammensank.

Die Welt begann sich auf ein Neues zu drehen. Mary schloss die Augen gegen den Schwindel und öffnete sie erst wieder, als das Ziehen und Zerren an ihrem Körper aufhörte. Sie war zurück im Keller unter der Academy und blickte auf das Regal, in dem der Apfel von Schneewittchen sich noch immer an seinem Platz befand. Jemand rief energisch ihren Namen. Mary sah nach unten, wo Cat neben dem Körper eines Menschen kniete. Sie rüttelte an dem Körper und rief immer wieder Marys Namen. Aber Mary stand doch hier, genau neben Cat und schaute auf sie herunter. Wie konnte Cat glauben, dass der Körper auf dem Boden sie wäre? Weil dieses Mädchen Marys Kleidung trug: die hellblaue Jeans mit den Rissen, das schwarze verwaschene Bandshirt mit dem Metallica-Schriftzug und die roten Turnschuhe. Mary strengte sich an, um Cat herumzusehen, um einen Blick auf das Gesicht des Mädchens werfen zu können. Sie rief sogar Cats Namen, aber genauso wie das Mädchen mit dem Apfel oder die Menschen im Frisörsalon, schien Cat sie nicht zu hören.

»Da bist du ja wieder«, sagte Cat erleichtert, griff nach ihrem Gehstock und richtete sich stöhnend auf. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst nicht hier runter gehen?«

Mary sah von Cat, die sich eine graue Locke aus dem Gesicht strich zu dem Mädchen, das sich aufsetzte und erstickte fast, an dem Schrei, der ihr im Rachen stecken blieb, als sie in ihr eigenes Gesicht sah. Wie konnte sie hier und dort gleichzeitig sein? Und warum sah Cat sie nicht. Mary hob die Fäuste und hieb damit auf das Kühle Glas ein, hinter dem sie gefangen war. Sie flehte, wimmerte und schrie, aber egal, was sie versuchte, Cat sah sie nicht an. Nur das Mädchen auf dem Boden sah zu ihr, während es sich auf die Füße kämpfte und etwas wackelig einen Schritt näher auf Mary zu trat.

»Sieh nicht in diesen Spiegel«, schimpfte Cat und zog sie zurück. »Jetzt mach schon, geh nach oben«, drängte Cat sie und klopfte mit dem unteren Ende ihres Gehstocks gegen die Wade des Mädchens, das aussah wie Mary.

Das Mädchen zwinkerte Mary zu, hakte sich bei Cat unter und ließ sich von ihr aus dem Gang führen.

Mary brüllte verzweifelt Cats Namen, hieb noch fester gegen das Glas, aber niemand von den Beiden sah zu ihr zurück. Das flackernde Licht erlosch, sobald Cat mit dem Mädchen den Keller verlassen hatte, und ließ Mary verzweifelt zurück. Es gab nichts mehr als absolute Finsternis um Mary herum. Sie hob die Hände, legte sie gegen das Glas und tastete um sich herum. Überall nur Schwärze und kühles Glas. Mary wischte schniefend über ihr nasses Gesicht, und begann wieder, gegen alles zu schlagen, was sie berührte. Ihre Fäuste pulsierten vor Schmerz, sie fühlte wie die Haut über ihren Fingerknöcheln aufplatzte. Sie konnte das warme Blut nicht nur fühlen, sie konnte es sogar riechen. Mary gab erst auf, als ihr Hals zu wund war, um weiter zu brüllen, und ihre Arme zu kraftlos, um weiter zu schlagen. Sie ließ sich erschöpft auf den Boden sinken und starrte in das endlose Schwarz.

Aber es war gar nicht endlos, denn ganz weit in der Ferne zuckte ein schwaches Licht. Es war von einem warmen Gelb, und Mary fühlte sich wie eine Motte vom Licht davon angezogen. Sie kämpfte sich auf ihre zittrigen Beine und lief darauf zu. Erst setzte sie nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen, aber dann beeilte sie sich immer mehr. Sie rannte auf das Licht zu. Immer schneller und aufgeregter. Ihr Herz sprang ihr vor Erleichterung aus der Brust.

»Bloody Mary«, hörte sie jemanden sagen.

Mary stolperte, fing sich wieder und verlangsamte ihre Schritte. Sie starrte auf das flackernde Licht einer Kerze. Langsam ging sie darauf zu.

»Bloody Mary«, hörte sie wieder.

Mary erschauerte. Aus dem Dunkel arbeitete sich ein Gesicht heraus. Sie erkannte das Gesicht eines Mädchens, das kaum älter als 14 war. Genau wie Mary stand sie in völliger Dunkelheit, das nasse Haar hing ihr glatt auf bis auf die Schultern und umrahmte ein verweintes Gesicht. Die Kerze erhellte sie nur wenig, so dass ihre Wangen tiefe Schatten warfen, was ihr ein unheimliches Aussehen verlieh. 

»Bloody Mary«, sagte das Mädchen und erhob ihre Stimme fast schon ehrfürchtig, als sie den Namen Mary zum dritten Mal sagte.

Mary trat näher an das Mädchen heran. Ihre Augen weiteten sich, sie drückte eine Hand auf ihren Mund und stolperte rückwärts. »Du bist es wirklich«, stieß das Mädchen ungläubig aus. Wich noch weiter zurück, stolperte abermals und erschrak, als das Licht in dem Badezimmer plötzlich angeschaltet wurde. ein weiteres Mädchen, nur in einem Nachthemd, trat in den Raum, den Mary jetzt als Badezimmer erkannte. Mary eilte auf die Beiden zu und drückte flehend ihre Hände gegen das Glas. die beiden Mädchen schrieen panisch auf. Eine von ihnen schnappte sich ein Handtuch und warf es auf die brennende Kerze. Die Kerze erlosch und Mary blieb allein zurück in der Dunkelheit. Tage, Wochen, Monate. Mary verlor jedes Zeitgefühl. Niemand hörte sie, niemand sah sie. Hin und wieder konnte sie Cat beobachten, die in das Archiv gekommen war, um etwas in ein Regal zu stellen. Aber Cat sah sie nicht, denn sie blickte niemals in den Spiegel.

Und wenn Cat gegangen war, blieb wieder nur die Finsternis. Bis in der Schwärze ein Licht aufleuchtete, auf das Mary zueilte, angezogen, ohne sich dagegen wehren zu können. »Bloody Mary«, rief eine Stimme, der sie folgte, nur um abermals in das Gesicht eines Kindes zu blicken. Mary lachte gellend, halb wahnsinnig vor Verzweiflung, auf und stürzte sich auf das Glas, das sie von der echten Welt trennte. Der Junge erschrak so heftig, dass er sich im Fallen den Kopf auf dem Rand der Wanne aufschlug.

Bloody Mary, das war sie jetzt also.