Dunkle Vergangenheit

Mit Argwohn betrachtete Emily die zerkauten Fingernägel ihres Gegenübers. Ihr Date sah gut aus, keine Frage, aber für sie war Perfekt gerade gut genug. Und zerkaute Fingernägel passten so gar nicht in ihre Vorstellung eines perfekten Mannes. Vielleicht hatte diese Neigung bei ihm ja nichts zu bedeuten, vielleicht war sie aber auch ein Hinweis auf eine psychische Störung?

Sie hatte sich bei ihrer Vorauswahl bemüht, alle Bewerber auszusortieren, die ihrer Ansicht nach, ungeeignet waren. Aber einer Mail konnte man unmöglich alle Fehler entnehmen und so saß sie hier mittlerweile mit Kandidat fünfzehn – dem Vielversprechendsten hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben. Vielleicht eine Mahnung an sich selbst: „Dies hier ist der Letzte, klappt es mit dem nicht, dann hast du es vermasselt. Dann hast du, wie so oft in deinem Leben, zu viel Wert auf Perfektion gelegt.“ 

Ihre Freundin Jenny hatte ihr genau das zum Vorwurf gemacht. „Du suchst nach Mr. Perfekt. Aber es gibt keinen Mann ohne Fehler. Wenn du so weiter machst, wirst du noch mit Vierzig auf der Suche sein.“ Das waren ihre letzten Worte an sie, bevor der Krebs sie dahingerafft hatte. Jetzt vier Jahre später, musste Emily sich eingestehen, dass ihre Freundin recht behalten hatte. In nur wenigen Monaten würde sie die befürchtete Vierzig erreichen. 

„Sie sind Anwalt bei Henderson und Clark, einer der renommiertesten Kanzleien von New York. Was bewegt einen so erfolgreichen Mann dazu, sich auf sowas einzulassen. Das Geld kann es nicht sein.“ Emily strich sich eine blonde Strähne hinter ihr Ohr, die sich ungefragt aus dem strengen Zopf gelöst hatte. Bewundernd stellte sie fest, dass ihr Date trotz der stundenlangen Autofahrt, die er hinter sich gebracht hatte, perfekt gestylt war. Das glänzend schwarze Haar sah aus, als wäre es frisch frisiert worden. Der Armani-Anzug hatte nicht eine Falte. Die unmanikürten Fingernägel passten einfach nicht in das restliche Bild. Aber sie musste sich auch eingestehen, dass etwas an ihm war, das unbekannte Gefühle in ihr hervorrief. 

„Vielleicht wollte ich einer verzweifelten Frau helfen. Vielleicht bin ich ein Spieler und die Schulden wachsen mir über den Kopf.“ Daniel lachte Emily an und seine haselnussfarbenen Augen funkelten belustigt. 

Emily schluckte heftig. „Verzweifelt? Wie kommen Sie denn darauf?“, stotterte sie. Sie senkte den Blick auf ihren Teller, auf dem der Hummer noch immer unberührt war. Diese Frage hatte sie ihm auch schon in ihren Mails gestellt, aber es war etwas anderes, wenn man im Gesicht seines Gegenübers lesen konnte, ob die Antworten der Wahrheit entsprachen. 

„Das war nur ein Spaß“, versuchte Daniel sie zu beruhigen. „Vielleicht wollte ich sie einfach nur kennenlernen.“ 

Entrüstet hob Emily den Kopf und blitzte den fast zehn Jahre jüngeren Mann an. „Kennenlernen?“ 

„Vielleicht wollte ich wissen, was für Frauen zu solchen Maßnahmen greifen. Oder, ich wollte sie einfach nur kennenlernen. Tun Sie das nicht auch gerade mit mir?“ 

Emily verschluckte sich an ihrem Weißwein und musste heftig Husten. Daniel erhob sich flink von seinem Stuhl, schritt elegant um den Tisch herum und klopfte ihr auf den Rücken. Als Emily sich gefangen hatte, neigte er den Kopf zu ihr herunter und flüsterte nah bei ihrem Ohr: „Besser?“ 

Sein heißer Atem strich über ihre Wange und Emily 

erschauderte. Daniel setzte sich wieder und ergriff ihre Hand, als wäre es das Normalste der Welt. Als würde Emilys Hand genau dorthin gehören, in seine. Ihre Haut kribbelte  wo er sie berührte. Verstört entriss sie ihm ihre Hand wieder.

Das lief total falsch. So hatte Emily das nicht geplant. Nur eine rein geschäftliche Angelegenheit, ermahnte sie sich. Um sich zu irgendjemanden hingezogen zu fühlen, war es zu spät. Aber war er nicht gerade deswegen ihr Favorit gewesen? Weil sie sich heimlich schon zu ihm hingezogen gefühlt hatte, als sie seine Mails las? War es nicht so, dass sie mit ihm einen intensiveren Mail-Kontakt gepflegt hatte, als mit den anderen Kandidaten. 

„Stimmt etwas nicht“, fragte er jetzt und seine Augen musterten sie mit solcher Besorgnis, dass sich ein Kloß in Emilys Hals bildete. 

Emily schluckte den Kloß runter. „Alles okay. Danke“, krächzte sie. Was sollte sie nur tun? Sie konnte das nicht durchziehen, mit einem Typen, für den sie vielleicht Gefühle hatte. Aber andererseits, vielleicht sollte sie es doch wagen? Wer sagte denn schon, dass es etwas Festes sein würde. Nein, eine Beziehung kam für sie nicht mehr infrage. Gedankenverloren strich sie sich über den Oberschenkel. Durch den feinen seidigen Stoff ihres Abendkleides konnte sie die Erhebungen und Konturen der Verbrennungen, die ihr ihr Exmann zugefügt hatte fühlen. Sie konnte unmöglich jemals wieder einem Mann vertrauen. Sie konnte sich unmöglich jemals wieder nackt vor einem Mann zeigen, denn die Verbrennungen reichten von ihrer Brust abwärts, bis hinunter zu ihren Schenkeln. Die Narben bedeckten ihren gesamten Körper, wie eine hässliches Netz aus weißen, 

rosafarbenen und roten Wülsten. 

Sie hatte es versucht, keine Frage, aber die Abscheu in den Augen der Männer, die sie so gesehen hatten … Das konnte sie nicht noch einmal ertragen. 

Emily warf Daniel einen traurigen Blick zu. „Es tut mir leid, aber ich denke, sie sind nicht der Richtige für diese Aufgabe. Vielleicht suche ich doch einfach eine Samenbank auf.“ Dann erhob sie sich und ging ohne einen letzten Blick auf ihr Date zu werfen.

Sie kam nicht weit, da vibrierte das Handy in ihrer Hand. Sie blieb vor dem Restaurant stehen und las die SMS.

Ich bin genau der Richtige und das weißt du auch.

Sie starrte auf das Display. Ihre Hände zitterten. Ja, er war der Richtige und das machte es so kompliziert. Sie hätte ihm schon viel früher schreiben sollen, dass er nicht der zukünftige Vater ihres Kindes sein konnte. Aber der Mailkontakt mit ihm hat Wünsche in ihr geweckt. Hat sie Dinge fühlen lassen. Wie hatten ein paar Worte all das mit ihr anstellen können. Sie hatte es nicht wahr haben wollen. Hatte gedacht, sich mit ihm zu treffen, würde die Magie seiner Worte auslöschen und sie könnten einfach das Geschäftliche hinter sich bringen.

Sie hatte nie damit gerechnet, dass ihm gegenüber zu sitzen, ihm in diese honiggoldenen Augen zu sehen und seine samtene dunkle Stimme zu hören, sie so verwirren und alles nur noch schlimmer machen würde. Nein, er war nicht der Richtige. Vielleicht könnte er ein perfektes Kind zeugen. Eins, das seine wundervollen Augen hätte, die dunklen lockigen Haare. Aber sie selbst würde es nicht fertigbringen, die Gefühle auszuschalten, die die ganze Zeit schon dagewesen waren. Wahrscheinlich würde es nicht einmal so weit kommen, weil sie isch nicht vor ihm ausziehen könnte.

Emily trat näher ein den Bordstein und winkte nach einem Taxi. Eine heftige Windböe ergriff ihr Haar und riss an ihrer Frisur. Sie steckte das Handy ein und stieg in das Yellow Cab. Erleichtert schloss sie die Tür und nannte dem Fahrer ihre Adresse. Na und, dann würde sie eben vierzig werden, dachte sie gequält. Sie würde auch ohne ein Kind gut klarkommen. Und ihr blieb ja noch immer die Samenbank. Die sie eigentliche hatte vermeiden wollen, weil sie einen persönlichen Blick auf die möglichen Väter werfen wollte. Vor dem Haus stieg sie aus. Es hatte angefangen zu regnen. Herbst in New York. Sie seufzte. Nur noch wenige Wochen, bis der Winter kam. Sie hasste den Winter.

2

Heute war Heilig Abend und der neue Nachbar bohrte seit Stunden Löcher in seine Wände. Emily stand kurz davor, rüber zu gehen und ihn zu fragen, ob er auch irgendwann einmal Rücksicht auf andere Menschen nehmen würde. Nicht, dass sie heute Gäste hätte oder irgendwo eingeladen war. Seit der Sache mit ihrem Exmann lebte Emily zurückgezogen von dem Geld der Versicherung und dem Erbe ihrer Mutter. Weder schmückte sie ihre Wohnung festlich, noch besaß sie einen Weihnachtsbaum. Das würde sich ändern, wenn ihr Kind erst auf der Welt war. Noch 30 Wochen bis zum 21. Juni, dem Tag, an dem ihr Baby auf die Welt kommen würde. Mittlerweile ging sie diesem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob es gut war, dieses Kind dem auszusetzen, dem sie ausgesetzt war. Einsamkeit. Emily hatte keine Familie mehr, weil ihr Exmann ihr alles genommen hatte. Sie hatte keine Freunde mehr, weil sie selbst sich für dieses Leben entschieden hatte. Die Scham wegen all der Dinge, die geschehen waren, saß zu tief. Und der Schmerz, weil ein paar ihrer Freunde ihre wahren Gesichter erst in den schlimmsten Stunden ihres Lebens gezeigt hatten. Sie hatten sich einfach von ihr abgewandt, als ihre einstige große Liebe sie, sich und ihre Eltern mit Benzin übergossen hatte, als herauskam, dass er sein und das Geld seiner Kunden aufgrund schlechter Entscheidungen auf dem Aktienmarkt verloren hatte.

Emily sah zum Fenster, das zur Hälfte zugeschneit war. Sie hatte ihre warmen Socken an. Neben sich hatte sie ein Buch liegen und in den klammen Händen hielt sie eine heiße Tasse Tee. Im offenen Kamin flackerte ein Feuer. Das hier war schon fast zu weihnachtlich für sie. Sie biss sich auf die Unterlippe und blinzelte eine Träne aus ihren Augen. Zumindest hatte der neue Nachbar aufgehört zu bohren. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, aber die alte Mrs. Tenner von unten meinte dieser Tage, er wäre ein sehr freundlicher Anwalt. Geschieden und kinderlos. Genau das Richtige für Emily. Die alte Mrs. Tenner machte sich viel zu viele Gedanken über Emily. Was sie wohl denken würde, wenn Emilys Bauch erstmal wuchs? Vielleicht würde sie ihr Kind für einen Unfall halten?

Es klingelte an der Tür und Emily schreckte zusammen. Bei ihr klingelte es so gut wie nie. Sie stand auf, stellte die Tasse Tee auf dem niedrigen Couchtisch ab und ging zur Tür. Es stand niemand davor, aber als sie nach unten sah, lang ein Geschenk vor ihren Füßen. Hübsch verpackt in rotem Geschenkpapier mit einer dunkelgrünen Schleife. Emily sah den Flur hinunter, aber da war niemand. Wer würde ihr etwas schenken?

Sie beugte sich runter und hob das kleine Päckchen auf und ging damit verwundert zurück in ihre Wohnung. Eine Karte gab es nicht. Nervös riss sie das Päckchen auf. Eine Schmuckschatulle. Emily runzelte unruhig die Stirn. Niemand schenkte ihr Schmuck. Machte sich jemand lustig über sie? Sie öffnete das schwarze Kästchen. Darin lag eine silberne Kette mit einem Anhänger: zwei inneinander verflochtene Herzen. Unter der Kette lag ein kleiner Zettel: Ich bin noch immer der Richtige.

Hastig klappte Emily die Schatulle wieder zu, als hätte sie sich daran verbrannt. Vielleicht hatte sie das auch. Zumindest fühlte es sich an, als wäre ein Feuer von der Schatulle ihren Arm hinauf geschossen und hätte ihr Herz zum flattern gebracht.

„Daniel“, flüsterte sie. Seit sie damals das Restaurant verlassen hatte, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie war nach Hause gekommen und hatte ihr Profil auf dem Onlinedatingportal sofort deaktiviert. So konnten auch keine Nachrichten mehr auf ihr Handy weitergeleitet werden. Hätte sie das nicht gemacht, wäre sie vielleicht eingeknickt und hätte ihm geantwortet. Und dann hätten seine Worte wieder ihre Magie gewirkt und wieder hätte sie sich auf ein Treffen eingelassen, das alles nur noch schlimmer machen würde. Vor diesem Treffen hatte sie zwar gewusst, dass es da Gefühle gab, aber sie hatte nicht geahnt, wie stark sie waren. Erst als er vor ihr gesessen hatte, war ihr das ganze Ausmaß dessen, was er in ihr auslöste, bewusst geworden.

Emily sah zu ihrem Laptop am Schreibtisch hinüber. Ihr Herz klopfte noch immer heftig in ihrer Brust. Sie zitterte vor Angst. Sie stand mit weichen Knien aug und schaltete den Laptop an, loggte sich in ihren Account ein und reaktivierte ihn.

Es dauerte ein paar Minuten, dann erschien eine Nachricht nach der anderen. Ein paar von den anderen Männern, mit denen sie Kontakt hatte, aber die meisten waren von Daniel. In den ersten Tagen nach ihrem Treffen hatte er ihr am Tag mehrmals geschrieben. Später nur noch eine Nachricht pro Tag. Die letzte war von heute. Sie klickte sie an.

Heute ist Heilig Abend, wäre alle so passiert, wie ich es in meinen Nachrichten geschrieben habe, dann würden wir jetzt gemeinsam vor dem Kamin sitzen. Ich hätte meinen Arm um deine Schulter gelegt und du hättest deinen Kopf an mich gelehnt. Wir würden in die Flammen schauen und schweigen. Und obwohl wir nicht reden würden, wäre alles perfekt. Weil wir uns nahe wären. Aber leider läuft es nie so, wie man es gerne hätte. Mir fehlen die endlosen wundervollen Stunden, die wir miteinander geschrieben haben. Mir fehlen deine Worte, die mich verzaubert haben. Vielleicht wirst du mir irgendwann all meine Fragen beantworten. Auch die, warum du glaubst, dass ich nicht der Richtige bin. 

In Liebe Daniel

Emilys Finger zitterten und in ihren Ohren rauschte es. Es kostete sie Mühe, seine ersten Mails zu öffnen. Zuerst flehte er nur, dass sie sich melden solle. Wollte wissen, warum sie ihm nicht mehr antwortete. Dann änderte sich der Ton der Mails und er begann, ihr täglich zu schreiben, was er tat, was er erlebt hatte und was sie beide tun würden, wenn es anders gekommen wäre. Er schilderte mit der sanften und zärtlichen Art in die sie sich so verliebt hatte, ein gemeinsames Leben, das sie gar nicht hatten. Am 28. Oktober zum Beispiel waren sie beide in „Les Miserables“ am Broadway. An diesem Tag hatte Emily erfahren, dass die künstliche Befruchtung erfolgreich war. Am 14. November war Daniel mit ihr Essen. Danach hätte sie das erste Mal bei ihm übernachtet. Sie hätten sich die ganze Nacht unterhalten und er hätte sie zärtlich geliebt.

Emily schluckte heftig. In ihrem Körper herschte Aufruhr. Eine Träne lief über ihre Wange. Was sollte sie tun? Sie wünschte, sie könnte all diese Dinge mit Daniel haben, aber das ging nicht. Er würde die Narben auf ihrem Körper sehen und würde sich angeekelt abwenden. Sie hatte nach dem Ende ihrer Ehe zwei Männer an sich herangelassen und beide waren fast schreiend vor ihr geflüchtet, als sie sie nackt gesehen hatte. Das konnte sie nicht noch einmal erleben.

Aber es würde nichts schaden, Daniel zu antworten. Das schuldete sie ihm.

Lieber Daniel,

mir tut es schrecklich leid. Und ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes schreiben, aber es gibt Dinge in meinem Leben, die kann ich mit niemandem anderen teilen. Aber, wenn dem nicht so wäre, dann würde ich jetzt neben dir sitzen. Im Kamin würde ein Feuer brennen, du hättest deinen Arm um meine Schulter gelegt und ich würde meinen Kopf an dich lehnen. Und wir würden schweigen, weil einfach alles perfekt wäre und es nichts zu sagen gäbe.

Emily

Sie zögerte einige Sekunden, bis sie mit einem entschlossenen Kopfnicken auf „Senden“ klickte.